Mittelhochdeutscher Trost

17.06.2018

Diesen Herbst schreibe ich mein 1. Staatsexamen (ziemlich verrücktes Gefühl, das nach all den Jahren Studium jetzt endlich auszusprechen…). Leider hat dieser Fakt so unangenehme Nebenwirkungen wie viel zu lange Uni-Bib-Nächte oder stundenlange Mittelhochdeutsche Übersetzungsübungen.

Letzteres zählt leider nicht unbedingt zu meinen Favoriten. Mir ist im Normalfall egal, wie Parzivals Schwester heißt oder welcher Ablautreihe man das starke Verb „werden“ zuordnen muss. So egal, dass die wöchentlichen Übersetzungsübungen sich meistens ziehen wie Kaugummi.

Heute war das irgendwie anders. Das Thema: Wolfram von Eschenbachs Minnesang „Den morgenblic“. Ich las den ersten Vers „Den morgenblic bi wahtaeres sange erkôs“ und hatte eigentlich schon keine Lust mehr. Ein paar Recherchearbeiten später machte das Ganze aber plötzlich um einiges mehr Sinn und die Wörterbuchsuche konnte gar nicht schnell genug gehen… ich wollte wissen wie es weiter geht – wohl zum ersten Mal in meinem kompletten Studium.

 

Der Inhalt des Gedichts ist schnell zusammengefasst: Ein Liebespaar wacht nebeneinander auf, die Sonne scheint durchs Fenster und plötzlich wird beiden klar: es ist tatsächlich schon morgen – und morgen heißt wir müssen uns trennen, denn keiner darf erfahren, dass wir die Nacht hier zu zweit verbracht haben. Sie versuchen den Abschied hinauszuzögern, ringen um Minuten, bis dass er sie am Ende doch noch verlassen muss – die eine so niedergeschlagen wie der andere. Denn sie beide wissen – in all zu naher Zukunft werden sie sich nicht wiedersehen können.

 

Was genau mich an diesem Gedicht so … man möchte schon sagen, gefesselt hat, ist wohl ziemlich offensichtlich. Ich hätte wirklich nicht erwartet, dass mich mittelhochdeutsche Minnesang-Dichtung irgendwann fesseln würde.

Noch weniger hätte ich erwartet, dass man beim Übersetzen mittelhochdeutscher Kanzonenstrophen Tränen in den Augen haben kann. Oder wie Wolfram von Eschenbach so schön sagt „ir ougen diu beguzzen ir beider wangel“ (Ihre Augen begossen [benässten] ihrer beider Wangen). Aber seit heute weiß ich: Das geht – und zwar nicht aus Verzweiflung, weil die Übersetzung nicht gelingt.

Dieses Gefühl, wenn man kurz vor dem Abschied jede Sekunde gemeinsam hinauszögern möchte, während man eigentlich genau weiß, dass es bald vorbei ist… dieses Gefühl immer und immer wieder mitzuerleben… Das wird wohl jedes Mal ein kleines bisschen schlimmer (so schlimm, dass sogar Mittelhochdeutscher Minnesang Fernbeziehungs-Trauma-Flashbacks hervorrufen kann!).

Irgendwie tröstlich zu wissen, dass sogar Wolfram vor knapp 1000 Jahren das alles ziemlich gut nachfühlen konnte. 


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