Liebeserklärung an Kanji

22.05.2018

Wenn ich neuen Bekanntschaften erzähle, dass ich Japanisch lerne, bekomme ich mit recht großer Wahrscheinlichkeit genau diese Reaktion: „Das muss doch wahnsinnig schwer sein, mit diesen Schriftzeichen!“. „Stimmt schon.“, wäre meine kurze Antwort – je nach Tagesform und Interessegrad des Gegenüber.

Die lange Version sieht dabei etwas anders aus. Denn „diese Schriftzeichen“ sind für mich vieles – schwierig, anstrengend, spannend, Augen-öffnend, verwirrend und wunderschön. Wie soll man das schon in zweieinhalb Sätze Smalltalk packen – hier der Versuch einer Erklärung.

Dass in Japan irgendwie ein bisschen anders geschrieben wird als bei uns, ist den meisten Menschen wohl bewusst. Aber dass „diese Schriftzeichen“ nicht gleich Schriftzeichen sind, wusste ich selbst vor der schicksalhaften Studentenwohnheimsbekanntschaft vor fast 3 Jahren nicht. Denn im Japanischen gibt es nicht nur eine Art von Schriftzeichen – das wäre ja irgendwie zu einfach -, sondern gleich drei verschiedene Schriftsysteme. Bei zwei davon handelt es sich um Silbenschriften – Hiragana und Katakana-, bei dem jede gesprochene Silbe je einem Zeichen zugeordnet wird. Diese Silbenschriften lassen sich relativ schnell erlernen, ähneln sie doch unserem alphabetischen „Baukastenprinzip“. Wer aber denkt mit diesen zwei Silbenschriften am Ende zu sein, der hat sich getäuscht.

Denn dann gibt es da auch noch Kanji. Kanji sind die kompliziert aussehenden Schriftzeichen, die man gemeinhin mit dem Japanischen verbindet. Sie sind ursprünglich aus dem chinesischen entnommene Zeichen, die mit einem einzelnen Zeichen gleich ein ganzes Wort bezeichnen können. Jedes Kanji kann gleichzeitig aber auch in den beiden Silbenschriften verschriftlicht werden. Deswegen habe ich mich am Anfang oft gefragt, warum ich mir überhaupt diese kompliziert anmutenden Zeichen aneignen sollte, wenn ich doch alles auch in einer Silbenschrift ausdrücken kann?! Nach und nach wurde mir aber klar: Warum sollte man schon langwierig Hu-n-de-hü-tte in Silbenschrift schreiben, wenn man das Ganze auch schnell und einfach in einem einzigen Zeichen sagen könnte. Gleichlautende Wörter wie (Fuß-)Ball und (Tanz-)Ball mit zwei Zeichen problemlos unterscheiden zu können ist dabei natürlich auch ziemlich praktisch. Und ganz abgesehen davon sind Kanji auch noch schön – wobei mir diese Schönheit erst nach und nach so richtig bewusst wurde.

Mein erstes kleines Aha-Erlebnis war wohl die Japanischsstunde, in der ich das nützliche Wörtchen 好き (suki) gelernt habe, was „mögen“ oder auch „lieben“ bedeutet. Der erste Teil von好き besteht aus den Kanji für Frau und für Kind. 女 und wird also zu – so wie die Zuneigung zwischen Mutter und Kind. Seit dem kann ich gar nicht genug kriegen von den kleinen Geschichten, die sich hinter diesen auf den ersten Blick kompliziert aussehenden Zeichen verstecken – und gleichzeitig eine ganze Menge über ihre dazugehörige japanische Kultur und Sichtweisen erzählen. Das sieht man schon in so simplen Dingen wie dem Zeichen für Baum , das zusammen mit ein paar anderen Bäumen 木木木 ganz selbstverständlich zum Zeichen für Wald wird, ziemlich logisch oder? Wenn man zu einem Baum dann noch eine Frau stellt, sieht das ganze so aus: . Ich finde, mit den Strichen über der Frau sieht es ein bisschen so aus, als würde sie sich freuen. Kein Wunder, bedeutet das Kanji doch Kirschblüte, einen besseren Grund um glücklich neben einem Baum zu stehen, gibt es doch gar nicht oder? ;) Jetzt mag man sich fragen, warum in der Kirschblüte nur die Frau  glücklich neben dem Baum  steht und wo der Mann geblieben ist. Der Mann sieht im Japanischen so aus: , das setzt sich zusammen aus den Kanji für Reisfeld und für Kraft/Stärke . Da wundert man sich dann auch nicht mehr, dass er traditioneller Weise wohl eher das Reisfeld 田 bestellen musste, als sich neben die Frau zum Baum stellen zu können. Gut, dass das heutzutage gleichberechtigter ist ;) Aber es geht noch poetischer. Die Kanji für Wetter 天気 zum Beispiel bestehen aus Himmel und Geist (im Sinne von Seele) . Das Wetter als Seele des Himmels. Wer sich das irgendwann mal ausgedacht hat verdient doch einen Preis oder? Oder einer meiner Favoriten, den mir meine Japanischlehrerin erklärt hat: bedeutet Stern, und besteht aus Sonne und Geburt . Meine Japanischlehrerin meint, Sterne sehen so aus als hätte die Sonne viele kleine Sonnenkinder geboren. Aah, ist das nicht wunderbar?? :) Natürlich lässt sich in heutiger Zeit leider nicht mehr die Logik hinter allen bestehenden Kanji erklären und manche müssen eben einfach auswendig gelernt werden. So besteht das Wort 米国 aus Reis und Land . Das ist nicht etwa wie man meinen könnte das Wort für China, sondern bedeutet warum auch immer Amerika 米国. China hingegen ist 中国. Das bedeutet „Innen“ oder auch „Dazwischen“. Jetzt verstehe ich auch, warum wir im Deutschen vom „Land der Mitte“ sprechen. Als ich angefangen habe Japanisch zu lernen, habe ich das gemacht um mich in Zukunft besser mit der Familie des Lieblingsjapaners unterhalten zu können - Sprachunterricht als Mittel zum Zweck, Schriftzeichen pauken als notwendiges Übel. Wie viel Kultur und teilweise schon Poesie darin steckt, habe ich absolut nicht erwartet und hätte ich ohne den Lieblingsjapaner wohl auch nie erfahren. Für diese Horizonterweiterung bin ich dem Lieblingsjapaner echt dankbar :)

Wer jetzt immer noch nicht von Kanji überzeugt ist, für den habe ich kleines abschließendes „Schmankerl“ ;) Das Kanji bedeutet (Wer nicht gerne flucht, sollte jetzt lieber wegschauen!) schlicht und ergreifend „Scheiße“, sowohl als fluchender Ausruf als auch als Bezeichnung für nunja, die Ausscheidung an sich. besteht – zugegebenermaßen etwas gequetscht – aus „Reis“ und aus „anders/andere Form“ . Wenn sich da mal nicht tägliche japanische Essgewohnheiten abzeichnen….


Kommentare: 2
  • #2

    Isabella (Montag, 02 März 2020 21:48)

    Hallo Rosi!
    Verrückt, dass du auf deisem Wege auf meinen Blog gestoßen bist. Den hat glaube ich schon ziemlich lange niemand mehr gelesen. Freut mich sehr, dass dieser alte Beitrag nochmal jemandem Freude bereitet hat. Du kannst ihn gerne verlinken.
    Liebe Grüße,
    Isabella

  • #1

    Rosi Grieder (Freitag, 28 Februar 2020 08:46)

    Hallo Isabella! Ich habe in fb einen japanischen Graphikprofessor als Freund, der gestern einen Beitrag über Kanji brachte. Da die fb-Übersetzung aus dem Japanischen oft ziemlich seltsam ist, hab ich auch im Internet zu Kanji recherchiert und bin auf deinen Blog gestoßen., wo du sehr schön und liebevoll über diese besondere Schrift schreibst. Hast du etwas dagegen, wenn ich deinen Text auf meiner Seite JAPANnow als Erklärung zu seinem Beitrag verlinke? Ich war 2x in Japan, aber es ist schon lange her, 1988, da gabs noch kein Internet und wir bekamen gerade unseren 1. Apple Macintosh ... ich war auch Graphikerin, bin jetzt in Pension. Du findest mich im Internet auch unter meinem Namen auf fb, Twitter und Instagram.
    Liebe Grüße, Rosi