Reisen im Kopf - Mein Tokyo

13.07.2018

Tag für Tag sitze ich am Schreibtisch vor mittelhochdeutschen Ablautreihen und didaktischen Modellen. Dabei will ich eigentlich nur weg, ganz weit raus, nichts mehr lesen, nicht mehr sitzen, den Kopf frei kriegen. Aber je näher das Examen rückt, desto stärker wird die Gravitationskraft meines Schreibtischstuhls, desto höher stapeln sich die Bücher auf dem Fensterbrett, immer höher, bis irgendwann gar keine Sonne mehr in das kleine WG-Zimmer kommen kann. Jeder kleine Ausbruch weg vom Computer und Notizen, geht mit schlechtem Gewissen und der nervig-lauten Stimme im Hinterkopf einher, die mir zuschreit, dass die Anderen bestimmt gerade viel fleißiger sind als ich. Dabei will ich so gerne raus, irgendwohin.

 

Reisen geht aber gerade nur im Kopf.

Manchmal in die Allgäuer Berge, zur Mitternachtssonne nach Norwegen oder meistens auch einfach nach Tokyo.

 

Tokyo ist groß, dachte ich vor meinem ersten Flug, laut, verrückt, blinkend und glänzend. Ich stolperte aus dem Flieger, im März 2017, und stürmte vorbei an Menschenmassen auf der Shibuya Kreuzung, glänzenden Chanel-Geschäften in Ginza und süßen Mädchen mit rosa Haaren in Harajukus Takeshita-Straße. Mit großen Augen in der U-Bahn Rushhour, ich, aus dem Dorf mit 2500 Einwohnern. All die Bilder aus diversen Dokumentationen und Zeitungsartikeln schienen sich direkt vor meinen Augen zu materialisieren.

 

Wenn ich jetzt von meinem Schreibtischstuhl aus im Kopf zurück nach Tokyo reise, dann sehe ich keine Leuchtreklamen und Mädchen in Maid-Uniformen mehr. Tokyo ist natürlich immer noch dieser Ort mit den tausenden Menschen und zu vollen U-Bahnen, aber mein Tokyo ist mittlerweile anders.

Kleiner irgendwie, gemütlicher.

Mein Tokyo ist die Seitenstraße mit diesem alten Mann, der Tag ein Tag aus die Aquarien seines Goldfischladens mit dem handgemalten Hängeschild davor säubert. Mein Tokyo ist die kleine Unimensa mit den nett-lächelnden Mitarbeiterinnen, die genau wissen was ich bestellen werde – frittierter Kürbis ohne Fischsauce aber dafür mit Krautsalat – weil es das einzige vegetarische Gericht ist. Mein Tokyo ist Spazierengehen am Fluss und Rückenschrubben im Badehaus/Sento um die Ecke.

Ich liebe das Gefühl, in die U-Bahn einzusteigen ohne im Fahrplan nachschauen zu müssen, weil ich den Weg mittlerweise weiß, ich liebe es auf dem Weg in die Innenstadt dem Mann aus dem Tofuladen zuzulächeln oder in meinem Lieblingskimonoladen durch die Reduziert-Ecke zu stöbern.

 

Ja, Tokyo ist groß. Es gibt Ecken die laut sind und blinken und genau so aussehen, wie man es sich vorstellt, wenn man das Wort Tokyo hört. Aber Tokyo geht auch anders. Tokyo hat Ecken, in denen die Zeit scheinbar stehen geblieben ist, in denen man seinen Tofu im Tante-Emma-Tofuladen kauft statt im 24-Std.-Convenience-Store, in denen die Häuser gar nicht so hoch sind, in denen man den Himmel sieht.

Mein Tokyo, das fühlt sich manchmal gar nicht mehr so anders an, als mein altes Dorf – das mit den 2500 Einwohnern.

Mein Tokyo – das ist Zuhause, jedes Mal ein Stückchen mehr.

 

 

 

Apropos, mittlerweile steht auch fest: Im September kommt ein kleines Stückchen Tokyo hier zu mir. Der Lieblingsjapaner hat seine Flüge gebucht! Wenn ich daran denke, ziehen sich meine Mundwinkel plötzlich ganz von allein nach oben :) 


Kommentare: 0